Geschichte

Wie die Reisach-Siedlung entstand …

(Auszug aus der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen)

 

Im Jahr 1933 kam die Stadt Stuttgart durch die Eingemeindung von Feuerbach-Weilimdorf in den Besitz der neuneinhalb Hektar großen Baumwiese im Gewand Reisach in Weilimdorf. Es handelte sich um einen leicht nach Norden geneigten Hang, der sich zum größeren Teil im Gemeindebesitz befand und sich deshalb für den Bau einer Siedlung anbot.  Die Reisachwiese war schon immer für die Gemeinde Weilimdorf ein Sorgenkind, weil sie außer dem Ertrag der Obstbäume nichts eingebracht hatte.

Im Jahr 1925 pachtete der Hofspediteur Paul v. Maur das ganze Gelände für seine pflastermüden „Belgier Pferde“ als Erholungsort. Ab da waren die Reisachwiesen eine Attraktion für die Weilimdorfer Bürger. Es fanden immer wieder Reiterspiele und Fuchsjagden des Stuttgarter Reit- und Fahrvereins und des Reiterregiments von Cannstatt statt. In den einzelnen Koppeln weideten gleichzeitig 20 – 30 Milchkühe zusammen mit den ungefähr 25 Pferden.

1931 entschloss sich die Deutsche Reichsregierung, durch eine neue Siedlungspolitik eine Entlastung der damaligen Wohnungsnot anzustreben. Dies sollte durch die Errichtung von landwirtschaftlichen und vorstädtischen Kleinsiedlungen erreicht werden. Bei der Erstellung waren genaue Richtlinien über die Bauausführung und -kosten vorgeschrieben. Grund und Boden wurden nur auf Erbpacht für 99 Jahre vergeben.

Mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit entschloss sich die Stadt Stuttgart Anfang 1934, mit der Erstellung einer neuen Kleineigenheimsiedlung im Reisachgelände in Weilimdorf den Versuch einer neuen Kleinsiedlungsform zu unternehmen. Das Neuartige war, dass im Gegensatz zu anderen derartigen Kleinsiedlungen nicht Erwerbslose und Kurzarbeiter, sondern Arbeiter, Angestellte und vollbeschäftigte Beamte dort angesiedelt werden sollten. Die Finanzierung sollte im Wesentlichen auf privatwirtschaftliche Grundlage gestellt und aus Darlehen der Sparkassen, der Württembergischen Landeskreditanstalt, des Arbeitsgebers und mit Eigenmitteln des Siedlers gesichert werden.

Ab Januar 1934 konnte man sich um eine Siedlerstelle bewerben. Der Bauantrag für 185 Wohneinheiten im Reisachgelände wurde am 05. Mai 1934 von der Stadt Stuttgart gestellt, die vorläufige Bauerlaubnis wurde am 09. Mai 1934 erteilt. Der erste Spatenstich zur Errichtung von damals vorgesehenen 169 Siedlerstellen erfolgte am 19. Mai 1934. In der schlichten Feier erläuterten die Architekten Hornberger, Kirchner, Mehlin und Kayser die Bau- und Lagepläne für die Reisach-Siedlung.

Am 06. Juni 1934 wurden den Interessenten technische Einzelheiten der Häuser und Grundstücke erläutert. Es sollten 3 Häusertypen gebaut werden:

Haustyp 1: 40 Siedlerstellen als Doppelhäuser mit ca. 36,5 qm Grundfläche mit 1 Wohnküche, 1 Schlafzimmer und 1 Dachkammer

Haustyp 2: 102 Siedlerstellen als Doppelhäuser mit ca. 46 qm Grundfläche mit 1 Küche, 1 Wohnzimmer, 1 Schlafzimmer und 1 Dachkammer

Haustyp 3: 27 Siedlerstellen als Einzelhäuser mit ca. 57 qm Grundfläche, Ausführung wie Typ 2, jedoch mit 2 Dachkammern

Bei allen Häusern kam 1 Keller und 1 Wirtschaftsraum im Untergeschoss dazu. Gegen Aufpreis wurde das Untergeschoss ganz unterkellert.

Bei den Haustypen 1 und 2 gehörte ein holzverkleidetes Stallgebäude am Ende des Gartens dazu. Hier konnten die Siedler ihre Gartengeräte und Kleintiere unterbringen.

Die Grundstücksgröße wurde auf ca. 4,5 Ar festgelegt.

 

Auf die 169 Siedlerstellen gingen über 1000 Bewerbungen ein, die ein strenges Ausleseverfahren im Sinne der damaligen Zeit bestehen mussten. Bereits in der Vorprüfung wurden 75 Prozent der Bewerbungen abgewiesen. Gründe für die Ablehnung waren hauptsächlich Mangel an persönlicher Eignung und fehlendes Eigenkapital. Am 09. Juli 1934 wurde die Verlosung der Siedlerstellen vorgenommen. Nun wusste jeder Siedler, welches Haus ihm in Zukunft gehörte. Sonderwünsche konnten im Rahmen des Bauprogramms durchgeführt werden. Ende August 1934 fand eine weitere Verlosung für die restlichen Häuser statt.

Anfang September 1934 wurde das Haus Nr. 10 in der jetzigen Wendelin-Hippler-Straße als Musterhaus vom Typ 2 eingeweiht und mit dem Mustergarten zur Besichtigung freigegeben.

Am 01. Oktober 1934 konnten die ersten Siedler ihre Häuser beziehen.

Mit der Eröffnungsfeier am 26. November 1934 wurde die Siedlung offiziell an die Siedler übergeben.

 

Die Straßen der Reisach-Siedlung

Bei der Planung der Reisach-Siedlung wurden drei Straßen vorgesehen, die zunächst Straße Nr. 1, 2 und 3 genannt wurden. Nach einer Beratung im Gemeinderat wurden Namen verdienter Bauernführer aus dem Bauernkrieg ausgesucht.

Die Straße Nr. 1 wurde die Florian-Geyer-Straße. Florian Geyer war ein fränkischer Ritter und Anführer in den Bauernkriegen. 1925 wurde er von Freischärlern bei der Beschießung der Fest Landstuhl ermordet.

Die Straße Nr. 2 wurde die Wendelin-Hippler-Straße. Der Bauernkanzler entwarf mit seinen 12 Artikeln im Jahr 1525 ein maßvolles Programm zur Lösung des Bauernkrieges. Er unterstützte wesentlich Luthers Programm „Mahnung zum Frieden“ an Fürsten und Bauern.

Die Straße Nr. 3 wurde die Huttenstraße. Ulrich von Hutten (1488 – 1523) führte ein unstetes Wanderleben in Deutschland und Italien. Er war ein guter Publizist gegen Papst und Fürsten und förderte die Bauernbewegung. Obwohl Luther fernstehend, förderte er die Reformation.

In den Jahren 1950 bis 1956 wurden unterhalb der Reisach-Siedlung von der Baugenossenschaft Feuerbach-Weilimdorf weitere Häuser gebaut. Die Straße wurde nach dem letzten Schultheißen von Weilimdorf Gotthilf-Dreher-Straße genannt.

 

Die Gemeinschaft und ihre Veranstaltungen

Schon bald nach dem Einzug fanden sich Siedler in verschiedenen Interessensgruppen zusammen. Es gab Spieleabende, an anderen Tagen wurde gemeinsam musiziert und gesungen. Auch ein kleiner Ausflug oder eine eigene Faschingsveranstaltung wurde durchgeführt. Später wurde eine Theatergruppe und eine Schrammelgruppe gegründet, deren Mitglieder sich später zu einem Singkreis zusammenschlossen. Hieraus ging 1937 der Reisach-Chor hervor. Es wurden Kinderfeste, Sommerfeste und Weihnachtsfeiern veranstaltet.

Am 27. September 1959 wurde der erste Lampionumzug und eine Beleuchtung der Reisach-Siedlung durchgeführt. Über 100 Kinder zogen mit Lampions durch die festlich und fantasievoll beleuchteten drei Siedlerstraßen, die mit über 2000 Lichterbechern den schönen Herbstabend verzauberten.

1974 beschloss die Reisach-Siedlung auf Wunsch vieler Siedler und Besucher, nach dem Lichterfest noch etwas zusammen zu sitzen, den Leuten im Maierwald am Ende der Florian-Geyer-Straße Getränke und ein Vesper anzubieten. Seitdem wird das Waldfest zusammen mit dem Lichterfest und dem Kinderfest gefeiert.

Seit Anfang des 21 Jahrhunderts findet das Fest unter der Bezeichnung „Reisach-Lichterfest“ im Schulhof der Reisachschule statt.

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